Ekstase – Expedition in ein unbekanntes Land
Henrik Jungaberle
JungaberleSpektrum der Wissenschaft Spezial: Rituale (2011)
Ekstase – Expedition in ein unbekanntes Land
Henrik Jungaberle
Er zittert am ganzen Körper, seine Pupillen sind stark erweitert und der Blick richtet sich in die Ferne. In raschem Wechsel spielen Freude, Entrückung, aber auch Bestürzung auf seinem Gesicht. Dann wieder entspannt er sich, nimmt den Raum und die Anwesenden wahr, um bald von einer neuen Welle der Erregung ergriffen zu werden. Und es bleibt nicht beim inneren Erleben: Immer wieder muss sich Roger (Name geändert) übergeben, erleidet Schmerzen, wirkt völlig erschöpft. Stunden später, die ihm wie eine Ewigkeit erschienen, berichtet er uns von jenem tagtraumähnlichem Fließen innerer Bilder, das er unter der Wirkung des psychoaktiven Pflanzentees Ayahuasca erlebt hat.
Er nennt diese Erfahrungen „innere Arbeit“ und er kennt diese Zustände – es ist bereits Rogers 17. Ausflug in das Land der Ekstase. Er reist dabei nie alleine, sondern ist Teil einer Ritualgemeinde, die der brasilanischen Kirche Santo Daime angehört. Der Pflanzentee stammt aus Brasilien: Dessen Wirkstoffe Harmin, Harmalin und Dimethyltriptamin stammen aus der Liane Banisteriopsis caapiund aus Blättern des Strauchs Psychotria viridis. Bei den indigenen Völkern und Mestizen Amazoniens dient der Tee beispielsweise dazu, in schamanistischen Zeremonien Geister zu treffen oder Krankheiten zu heilen. Verschiedenen, von der christlichen Mythologie geprägten Religionen wie Santo Daime gilt Ayahuasca als Sakrament. Sowohl die Zubereitung des Tees wie auch die Einnahme sind Teil eines Rituals.
Kulturpsychologie an der Universität Heidelberg: Die Erforschung von Ritualdynamik
Seit dem Jahr 2002 untersuchen wir, eine Gruppe von Medizinpsychologen des Universitätsklinikums Heidelberg, wie Menschen mit psychoaktiven Substanzen umgehen. Im Projekt RISA ( Ritualdynamik und Salutogenese beim Gebrauch und Missbrauch psychoaktiver Substanzen) studieren wir mittels Fragebögen, Interviews und direkter Beobachtung vor allem, von welchen biografischen und sozialen Faktoren es abhängt, ob der Drogenkonsum langfristig Schaden anrichtet oder nicht. Denn die Einnahme psychoaktiver Substanzen führt nicht automatisch zur Abhängigkeit – die bei Halluzinogenen sowieso rar ist. Zudem berichteten und berichten Ethnologen immer wieder von erfolgreichen Heilritualen, in denen eine psychoaktive Substanz als Vehikel dient, um in Ekstase zu geraten. So werden soziale und psychische Konflikte intensiviert, inszeniert und oft auch gelöst. In der Studie geht es deshalb weniger um die Entwicklung von Sucht oder anderer pathologischer Verhaltensweisen. Im Vordergrund steht die Gesundheit und Resilienz (psychische Widerstandskraft) bei Menschen, die sich mit dem Konsum von Alkohol, Cannabis oder anderen Substanzen neben den positiv erlebten Wirkungen auch deren Gefahren aussetzen. Tatsächlich deutet sich nach neun Jahren Feldstudie (das Projekt endet 2012) an, dass ein ritualisierter Kontext einen wichtigen Schutzfaktor darstellt.
Als Probanden in der Schüler-Stichprobe haben wir per Zufallsauswahl mehr als 300 Jugendliche aus zwölf Schulklassen aufgenommen. In der anderen Stichprobe meldeten sich fünfzig Erwachsene. Diese Erwachsenen konsumieren verschiedene psychoaktive Substanzen; meist sind es Halluzinogene. Die Studie wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) unterstützt und ist Teil des Sonderforschungsbereichs 619 Ritualdynamik.
Ritualtransfer: Wie Menschen südamerikanische Zeremonien mitten in Europa zelebrieren
Roger war Anfang 20, als er zu uns stieß. Streng katholisch erzogen hatte er als Jugendlicher einen ausgeprägten religiösen Skeptizismus entwickelt, experimentierte dann eine zeitlang im Freundeskreis mit Cannabis und MDMA (auch Ecstasy genannt), bereiste nach dem Abitur auf eigene Faust Peru und Brasilien. Doch anders als mancher, der uns in der Suchtberatung begegnet, schaffte Roger es, seinem Leben eine Richtung zu geben, begann beispielsweise Biologie zu studieren. Solche Lebensentscheidungen treffen zu können, verdankt er nach eigener Überzeugung ekstatischen Erlebnissen im Kontext von Heilrituale, etwa der Santo Daime-Kirche. IIn einigen europäischen Ländern wie Spanien oder den Niederlanden wird diese Gruppe als Religionsgemeinschaft toleriert, in anderen wie in Frankreich oder Deutschland hingegen wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz verfolgt – obwohl die rechtlichen Grundlagen dieser Praxis zumindest zwielicht sind.
Eine solche Zeremonie dauert mitunter bis zu zehn Stunden. Wir haben Dutzende dieser Rituale beobachtet: Etwa vierzig Personen aus allen Gesellschaftsschichten sitzen in einem Sechseck um einige Musiker und die Sitzungsleitung herum auf Stühlen. Die Gemeinschaft singt im Verlauf des Abends bis zu 160 Hinarios (Hymnen). Ein bis drei Mal trinken die Gemeindemitglieder Ayahuasca, während so genannte Fiscals die Sitzung begleiten und gegebenenfalls einen „Reisenden“ unterstützen. Niemand sucht nach banalen Glückserlebnissen. Vielmehr geht es um spirituelle Entwicklung, um ein existenzielles Einheitserlebnis, die Suche nach Antworten auf Lebensfragen und die Erfahrung von Geborgenheit und Gemeinschaft. Im Ursprungsland dieser Gruppen, einem Schmelztiegel des religiösen Synchretismus, gibt es vielfache Beziehungen zwischen Santo Daime Gruppen und den traditionellen christlichen Kirchen – als deren Erneuerung sie sich oft verstehen.
Rituale und Drogengebrauch
Ritualforschung kann viel dazu beitragen unseren, von den Entwicklungen der modernen westlichen Welt geprägten Blick auf Rausch und Drogengebrauch zu erweitern. Denn Rituale, in denen veränderte Bewusstseinszustände eine Rolle spielen, waren und sind Teil von Religionen wie Hinduismus und Buddhismus (man denke an das stundenlange „Chanten“ monotoner Gesänge), des Islam (bekannt sind die Drehtänze türkischer Sufis) und auch des Christentums (dazu gehört das ekstatische „Reden in Zungen“ bei evangelikalen Gruppen wie den Pfingstlern). Ekstasezustände gehören zu schamanischen Heilpraktiken, waren bei vielen Völkern Teil von Initiationsritualen oder sollten entweder dem Heiler oder den Erkrankten Visionen vermitteln. Zu den bekanntesten Ritualen letzter Art gehörte der Sonnentanz der Lakota-Indianer, der auch heute noch gelegentlich durchgeführt wird: die Tänzer treiben Pflöcke durch Haut und Muskeln von Brust und Rücken, befestigen Schnüre daran und verbinden diese mit einem Pfahl. Dann tanzten sie mehrere Stunden bis Tage, ohne Nahrung oder Wasser zu sich zu nehmen. Ziel der Torturen war es, durch Schmerzüberwindung ein Visionen zu erleben. Die Methoden, solche Trance zu erreichen, sind Legion, von psychoaktiven Sustanzen über rhythmischen Tanz, monochrome Musik, rituelles Schwitzen, tagelangen Aufenthalt im Dunkel von Höhlen (Reizarmut) bis hin zur Reizüberflutung, man denke an das Licht- und Schallgewitter heutiger Technoparties.
Bei all diesen Beispielen aus unterschiedlichen Kulturen zeigt sich: Ekstase und Rausch sind immer in kulturelle Erzählungen eingebettet, die ihnen Sinn und Bedeutung verleihen. Sei dies die Verbindung mit Geistern wie im sibirischen, asiatischen und südamerikanischen Schamanismus oder die Verschmelzung mit Gott wie in den sufistisch-islamischen Praktiken. Erst unsere westliche Kultur hat mit dieser Tradition gebrochen und wertet ekstatisch-rauschhaftes Erleben meist als krankhaft, als Ausdruck mangelnder Selbstkontrolle oder gar Sucht.
Die Funktion von Ritualen aus der Sicht der Teilnehmer
Für die RISA-Studie haben wir uns einen doppelten Blick zu eigen gemacht: Wir sehen Rituale einerseits als regelgeleitete soziale Aufführungen, in denen eine Gruppe von Menschen mittels Sprache, Gesten, Mimik und anderen körperlichen Ausdrucksformen sowie mittels symbolischer Gegenstände miteinander kommunizieren. Andererseits erlauben Rituale aber auch die Demonstrationen von Identität oder gar Protest, indem sie Dritten ein Anderssein zeigen, eine eigene, bedeutungstragende Beziehung zur sozialen Umwelt.
Die Inhaltsanalyse von Interviews aus dem Umfeld der Ayahuasca-Kirchen ergab dementsprechend, dass die RISA-Studienteilnehmer deren Rituale wie folgt erleben:
(1) als sicherheitsstiftende Ordnung (im Gegensatz zu einem regellosen, nur auf Glücksgefühle ausgerichteten Drogengebrauch).
(2) als gemeinschaftsstiftende Handlung (im Gegensatz zu einer sprachlich-intellektuellen Vereinsamung im christlichen Gottesdienst).
(3) als weltanschaulich-philosophischen Rahmen (im Gegensatz zum gedankenlosen-egozentrischen „Zudröhnen“ durch Rauschmittel)
(4) als moralisches Bezugssystem(im Gegensatz zur gesellschaftlichen Selbstisolation vieler jugendlicher Protestkulturen)
(5) als ästhetischen Genuß (im Gegensatz zu einem bloß funktionalen Konsum)
(6) als psychische Orientierungshilfe(im Gegensatz zu einem ziellosen Treiben im rauschhaft-ekstatischen Zustand)
Vor allem die Neubewertung der Rauscherlebnisse als wertvolle Erfahrungen auf einem selbstgewählten „spirituellen Weg“ war für diese Menschen biografisch entscheidend. Natürlich ist ihnen bewusst, dass sie eine gesellschaftliche Grenze überschreiten. Und kein Wunder, dass man im Umfeld dieser Gemeinschaft auch jenen Phänomenen begegnet, die es bei allen religiösen und spirituellen Gemeinschaften zu geben scheint: Übertreibungen, Orthodoxie, Selbstisolation, eine gewisse missionarische Überzeugung.
Ecstasy ist in Europa nicht fremd
Ekstase leitet sich vom Griechischen her und meint soviel wie »Außer-sich-sein« und »Heraustreten«, was ein zeitweiliges Verrücken des persönlichen Koordinatensystems meint. Das birgt die Chance einer neuen Perspektive, aber auch die Gefahr des Selbstverlusts. Zu den allgemeinen Merkmale der veränderten Wachbewusstseinszustände gehören die Veränderung der Selbst-, Welt- und Zeitwahrnehmung, vor allem eine Emotionalisierung, eine Verstärkung des visuellen und auditiven Erlebens, der Körperwahrnehmungen sowie ein intensiviertes Bedeutungserleben. In der Regel verschiebt sich in solchen Zuständen das Erleben weg vom Ich-haft Kontrollierten, hin zum rauschhaften Getragenwerden in einem Strom fragmentarischer innerer Geschehnisse. Es ist gerade dieses passive „Getragenwerden“, das für labile Menschen eine Verführungs- und Suchtqualität haben kann.
So viele Wege es zur Ekstase gibt, so viele Funktionen kann sie haben. Manche Menschen befriedigen damit philosophische Neugier, andere wollen ihr Leben intensivieren, wieder andere hoffen auf Heilung von einer schweren Krankheit oder suchen nach dem Ausweg aus einer Sinnkrise. Warum aber taucht dieses Phänomen so oft im Umfeld von Ritualen auf und welche Funktion hat es in Ritualen?
Eine einfache Antwort kann es auf diese Frage nicht geben, dazu sind Rituale ein zu schillerndes Phänomen. Sie reichen von der Begrüßung durch Handschlag bis zur Papstwahl, von der schamanischen Heilzeremonie zur Inauguration von Barack Obama als 44. Präsident der Vereinigten Staaten. Und jedes Ritual kann aus einem psychologischen wie aus einem soziokulturellen Blickwinkel betrachtet werden. Rituale sind Aufführungen und Handlungen, die über ihre offensichtliche Funktion hinausweist. So kanndas Zähneputzen Ritual sein, sofern es eine Realität jenseits des unmittelbar Beobachtbaren demonstriert. Etwa im Sinne einer Identitätsfunktion: »In unserer Familie legt man viel Wert auf Hygiene.« Oder entsprechend der Ritualtheorien der frühen Psychoanalyse: »Ohne Zähneputzen kann ich nicht einschlafen.« Hier vermittelt die RoutineSicherheit.
Diese Sicherheit stiftende Funktion findet sich – wie anhand des Ayahuasca-Kirchen-Beispiels erläutert – auch in Ritualen der Ekstase. Und das, obwohl gleichzeitig durch die Ekstase „Routinen“ im Denken und Handeln durchbrochen werden.
Umgekehrt erhöhen Ekstasen mitunter die Glaubwürdigkeit eines rituellen Dramas – in den erwähnten Pfingstlergemeinden etwa „demonstrieren“ sie, dass der Gläubige wahrhaft vom Geist Gottes erfüllt ist. Die Ekstase selber ist es, die den Ritualteilnehmern als Beweis für die religiöse Echtheit des Geschehens gilt. In der Masse Gleichgesinnter wirkt das Phänomen dann sogar „ansteckend“.
Rituale als Kommunikationhandlungen
Rituale sind Kommunikationshandlungen. Durch sie vergewissern sich Menschen ihrer soziokulturellen Realitäten: Was ist wichtig, wer ist wichtig? Oftmals werden diese Realitäten nicht sprachlich kommuniziert, sondern vorgeführt und im Akt des Rituals als gemeinsame Erfahrungswelt geteilt. Und so offenbart man einander im Zuge „ekstatischer Entrückung“ außergewöhnliche innere Zustände und interpretiert sie bei dieser Gelegenheit gleich noch.
Ein häufig genutzter Kniff in Ritualen ist es, das Unsichtbare so zu behandeln, als ob es zumindest für einige der Teilnehmer sichtbar wäre. Wenn ein Priester vor seiner Gemeinde mit einer Gottheit spricht, scheint zumindest er Zugang zu dessen Realität zu besitzen. Unser Forschungsteam beobachtete vor einigen Jahren in einem Ayahuasca-Ritual einen Fall von Besessenheits-Trance bei einer jungen Frau. Sie hatte sich im Rahmen eines Rituals plötzlich, ganz „außer sich“ auf den Boden geworfen und mit Schreien und heftigen Handbewegen gegen „unsichtbare“ Wesen zur Wehr gesetzt, die sie zu bedrängen schienen. Unseres Erachtens imitierte und inszenierte sie aber die Weltanschauung in dieser Gruppe: dass es eben „Geister“ und „Wesen ohne Körper“ gebe, die in Kontakt mit Menschen träten. Solche Ekstase ist der Gruppe dann gleichzeitig Beleg für die Richtigkeit dieser Weltanschauung.
Ein weiteres Ayahuasca-Ritual, in dem wir unseren Studienteilnehmer Roger beobachten konnten, ist ein gutes Beispiel für die Inszenierung des Unsichtbaren: In der fünften Stunde einer Ayahuasca-Sitzung traten unvermittelt heftige Bauchschmerzen auf. Der von ihm gerufene Leiter der Zeremonie fächerte frische Luft zu, berührte Rogers Stirn, sprühte eine belebende, stark riechende Flüssigkeit auf dessen Hände und vollführte dann minutenlang Bewegungen über dem Bauch, als würde er etwas aus dem gequälten Körper entnehmen und fortschleudern. Dies war die Inszenierung einer Geistheilung. Der in Trance Liegende reagierte mit heftigen Zuckungen, beruhigte sich dann aber bald und die Schmerzen verschwanden. Nach dieser Sitzung berichtete Roger, „schwarze Löcher“ in seinem Bauch gesehen zu haben, die Lebensenergie aufsaugten. Der Leiter habe diese durch seine Bewegungen gereinigt und dann entfernt. Roger hatte also das Unsichtbare – Gefühle und innere Zustände – in Bilder umgesetzt und dabei auch die Handlungen des Leiters integriert.
Wie bei Roger bleibt in der Ekstase meist ein beobachtender Ich-Anteil, der nach dem Wiedereintritt in die Normalität Geschichten „aus dem anderen Land“ erzählen kann: von heilsamen Stimmen oder Schutzengeln, von der Begegnung mit Verstorbenen, von der zeitweiligen Auflösung bedrückender Selbstbilder im Gefühlstaumel. Dergleichen kann heilsame Erfahrung vermitteln und »die Seele reinigen«. In kontrollierten Therapiestudien in den USA, Israel und der Schweiz – also nicht im Rahmen von rituellen Gemeinschaften – werden derzeit die therapeutischen Wirkungen von Entaktogenen (MDMA) und Halluzinogenen (LSD) durch Ärzte und Psychologen neu erforscht, ohne den ideologischen Balast der 1960er Jahre. Damals waren diese Substanzen rasch aus den Labors auf die Straße gelangt, um dann die sogenannte „psychedelische Revolution“ auszulösen.
Einsicht, Katharsis und ein Gefühl der Kohärenz durch Ritual(isierung)
Manche therapeutischen Ekstasen eröffnen neue Einsichten, andere befreien kurzzeitig von den Begrenzungen des kulturell erzogenen Anstands und verbinden mit elementaren, triefhaften Lebenskräften. Von pathologischen Extremformen abgesehen, in denen der Umgebungsbezug und das „Ich“-Empfinden erlöschen, so dass der Betroffene keinerlei Erinnerung an das Erlebte in den »Normalzustand« rettet, bieten all diese Erlebnisse eine Chance, die eigene Position in der Welt neu zu bestimmen – aber nur wenn dazu geeignete Interpretationsmuster und soziale Netzwerke vorliegen. Eines lässt sich jedoch bereits vor Abschluss der Studie für die beide Stichproben der RISA-Studie aussagen: Der sogenannte „Kohärenzsinn“, den wir bereits zu Beginn der Studie vor acht Jahren gemessen haben, sagte gut voraus, ob Menschen tendenziell bei einem kontrollierten, „sinnhaften“ Umgang mit psychoaktiven Substanzen bleiben oder weniger kontrollierte, suchtartige Verhaltensweisen entwickelten (Ullrich & Jungaberle 2008). Der Kohärenzsinn war bereits in den siebziger Jahren von dem Gesundheitsforscher Aaron Antonovsky entwickelt worden und misst die erlebte Sinnhaftigkeit, Versteh- und Handhabbarkeit des eigenen Lebens. Er ist in zahlreichen Studien mit körperlicher und psychischer Gesundheit korreliert. Ein strukturierter und ritualisierter Kontext für Ekstase – wie das bei vielen Ayahuasca-Ritualen der Fall ist – bietet den Teilnehmenden eine Fülle von „Sinnangeboten“, Deutungsmustern und konkreten Hilfestellungen – im Gegensatz zum unkontrollierten und hauptsächlich hedonistisch motivierten Konsum.
Jene kleine Gruppe der RISA-Studienteilnehmer, die an den Ritualen der brasilianischen Ayahuasca-Gemeinschaften teilnehmen, gebrauchen im Rahmen eines stark ritualisierten Umfelds eine psychoaktive Substanz. Das Ritual ermöglicht und begrenzt die Ekstase zugleich, es bietet einen (relativ) sicheren Rahmen für außergewöhnliche Erfahrungen: »Ich habe gezittert wie ein Hund, geweint und mich übergeben. Ich musste lernen, mich neu zu lieben und mir zu vergeben und mehr als alles: meiner Familie zu vergeben. Ich habe gelernt, dass es eine Möglichkeit gibt, gut zu leben.« Immer wieder berichten die Studienteilnehmer in Interviews davon, einen Blick über den Tellerrand des Alltags und der gewohnten Sichtweisen zu werfen: »Wenn du dich selber von innen siehst, gestehst du dir ein, dass du Fehler hast, spürst deine Sterblichkeit. Mehr als einmal bin ich dem Tod begegnet. Ich fühlte, dass ich starb und sah mich selber tot. Ich hatte verdammte Angst. Diese Sitzungen habe ich als hässlich erlebt, aber auch als tief greifend – als ob ich eine andere, sehr seltsame Welt beträte.«
Dass solche Erlebnisse „automatisch“ eine therapeutische Wirkung im Sinne des antiken Begriffs der Katharsis haben, ist eine überholte und idealisierende Sichtweise. Fast immer bedarf es der reflektierenden Auseinandersetzung, um die Erfahrungen bislang unbekannter Selbstanteile in die Gesamtpersönlichkeit zu integrieren. Die wichtigste Funktion des Rituals ist es, dafür den adäquaten sozialen Kontext bereit zu stellen und die Gefahren solcher Grenzüberschreitungen sozial zugänglich und beherrschbar zu machen. Ein Studienteilnehmer beschrieb dies so: »Das Ritual ist ein Ort an dem du dich gesünder fühlst, an dem du mit anderen zusammenkommst und den du irgendwie ‚segnest’. Es macht eigentlich nichts aus, wie viele Dinge du in der Erfahrung dann siehst – so lange du an dem Platz bist, wo du sagen kannst: ‚Das ist o.k. Hier kann es passieren’.«
Für viele Verfechter der nüchternen Rationalität und Normalität sind solche irrationalen Phänomene nur schwer zu akzeptieren. Ihnen gelten Ekstasen als Form des Aufbegehrens oder Flucht aus einer aufgeklärten, rationalen Welt. Und das ist sicher nicht immer unberechtigt – gerade Jugendliche sind von drogeninduzierten Ekstasen fasziniert. Wer dies aber kategorisch als kriminell und krankhaft brandmarkt, verbaut den Zugang zu einem traditionellen System der Heilung und Selbstfindung. Dann geschieht das, was wir in vielen modernen Gesellschaften beobachten können: Das Ekstatische gerät in den esoterischen Untergrund, wird dem Ritual-Tourismus überlassen und an zweifelhafte Heilsbringer abgetreten. Roger, heute fast Dreißig, hat für sich das biografische Fazit gezogen: »Ich habe diese Aus-Zeiten gebraucht, um mich selber zu finden. Aber in den Gruppen, in denen ich das gemacht habe, lebt mir zuviel Leichtgläubigkeit und Heilserwartung.«
Vielleicht sollte man die Gefahren von Ekstasen im Rahmen dessen sehen, was die Resilienzforschung seit einigen Jahrzehnten als Widerstandsfähigkeit beschreiben kann: Manche Menschen wachsen gerade unter Herausforderungen, unter Stress.
Henrik Jungaberle studierte Philosophie und Geschichte an den Universitäten Freiburg und Konstanz, später Musiktherapie an der FH Heidelberg; er hat im Fach Medizinsche Psychologie am Universitätsklinikum Heidelberg promoviert. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehört die Präventions- und Drogenforschung. Das beschriebene Projekt ist Teil des DFG-Sonderforschungsbereichs Ritualdynamik.
Literaturtips
Jungaberle, H., Verres, R., DuBois, F. (2006) Rituale erneuern. Ritualdynamik und Grenzerfahrung. Gießen: Psychosozial Verlag.
Labate, B. et al. (2009) Ayahuasca Religions: A Comprehensive Bibliography and Critical Essays. Sarasota: MAPS.
Scharfetter, C. (2008) Psychopathologie. Sternenfels: Verlag Wissenschaft und Praxis.
Zinberg, N. (1984) Drug, Set and Setting: The basis for controlled intoxicant use. New Haven/London: Yale University Press
08. Januar 2011
Thanks to the teams at the Collaborative Research Area 619 Ritualdynamik and Spektrum der Wissenschaft for making this special issue about Rituals possible.
Die Daimler und Benz Stiftung unterstützte eine gemeinsame Tagung des SFB 619 und die Publikation des Spektrum der Wissenschaft Spezial zum Thema Rituale im Rahmen des 14. Berliner Kolloquiums“Rituale – Was unser Leben zusammenhält” (Wissenschaftliche Leitung: Prof. Dr. Alex Michaels).
Die INSIGHT Konferenzreihewird von der MIND Foundation organisiert und bringt ein weltweites Publikum mit den neuesten Erkenntnissen der psychedelischen Forschung, Therapie und menschlichen Entwicklung zusammen. Neben den Natur- und Sozialwissenschaften werden auf der INSIGHT auch anthropologische Perspektiven und Kulturpsychologie diskutiert.